Sammelalbum
1976



Aus "Sounds" Juni 1976

SAILOR: Suff-und Puffmusik

Was für 'ne nette Gruppe, diese SAILOR, was für nette Musik, was für nette junge Menschen - denken Mutti und Töchterchen. Passt genau zwischen zwei Bay-City-Rollers-Scheiben. Aber wenn Mutti und Töchterchen mal auf die Texte hören würden, au weia: dann gäbe es entweder rote Köpfchen oder feuchte Höschen...
Die kleinen Mädchen rennen zur Bühne. Sie tragen Matrosenanzüge, kreischen und singen und greifen nach Schuhen, Hosenbeinen und (himmlisch!) den Händen ihrer Idole. Die sich SAILOR nennen. Die gerade eine Nummer Eins Single in Großbritannien hatten. Und die ganz sicher das neueste Modell von jenem Fließband sind, auf dem auch die Bay City Rollers zusammengebastelt wurden. Standard Modell der siebziger Jahre, vollautomatisch. Klar? Also singen sie von Junge-trifft-Mädchen, Mondenschein im Stadtpark, süßem Trieb, Tanz in Kaugummi-Trance. Oder?
Tja... nun, ich frage mich, ob ihr mal genau hingehört habt, ihr süßen Teenies? Wichtiger noch, ob eure Eltern mal genauer hingehört haben. Denn, Mamma Mia, da erwar­tet euch alle ein gelinder Schock! In heiterem Ton singen sie von Pornographen (ha-ha), Zuhältern (he-he), Nutten (ho-ho) und deren Kunden (Wer ist denn das? Ich? Nein - alles falsch verstanden - das sind die Matrosen bei ihrem ersten Landurlaub nach Monaten auf der Weite des blauen Meers!)
Fröhlich bearbeiten sie ihr ungewöhnliches Nickelodeon, ein Tasteninstrument aus Computer- und Alteisenteilen, das an ein Pissoir der Güteklasse Eins erinnert. Und sie entlocken ihm die schrillen Kneipentöne einer Hafenkaschemme, die schwitzigen Fandangos einer lateinamerikanischen Cantina. Fröhlich dröhnt der Bass-Moog die dumpfen Unterleibstöne, und fröhlich singen sie dazu: "Auf der Straße, Junge, da ist was los / Wo die Gauner und die Dealer und die Nutten und die Halsabschneider es den Freiern zeigen!" ("The Street" auf Sailor) So bezaubernd, diese Matrosen. Was für nette Menschen. Die müssen doch nett sein, denn du hast doch gerade ihre nette Single gekauft und deine Mutter fand sie auch nett. Denn sie ist so fröhlich!
Ihre Texte beschreiben immer wieder dasselbe Thema : Landurlaub des Matrosen, Mädchen tanzt auf dem Tisch, Flasche Wein in der Hand, und der Matrose (dem man nachsagt, dass er's mit Burschen treibt, wenn keine Mädel zur Hand sind) lässt den Charmanten raushängen, zeigt die blauen Scheine und aufi geht's dahin, wo die rote Laterne schimmert. "Kümmer' dich nicht, was die Mammi sagt / Ein artiges Mädchen treibt sowas nicht / Mädchen, die Mammi ist weit, komm her!" "Blame It On The Soft Spot" auf SAILOR Und die kleinen Mädchen kreischen und stampfen mit den Füßen. Wenn sie noch ein bisschen mehr auf ihre Alternativ-Rollers abfahren, dann \ werden sie sich die Schlüpfer nässen, wie sie's auch bei Les und Woody tun. Sind die munteren Matrosen auch flink im Windelwechseln?
Die kleinen Teenies lieben ihre Hitmacher und verstehen nichts, ihre Eltern haben Spaß an den Leierkastenmelodien aus der Music-Hall und hören nicht zu. Nur die Heranwachsenden, die wahren Teenager, denen es in den Schamhaaren juckt, die Typen mit reichlich Schleim auf der Pfeife, nur sie hören hin und verstehen, was da läuft. Und deswegen lieben sie SAILOR als eine Pop-Gruppe, die haargenau ihre eigene Lebensanschauung vertritt ihre pubertäre Sexbezogenheit, ihre Probleme und Verwirrungen.
Eine wesentliche Zeile von dem ersten Album der Matrosen sagt es, wie es ist: "Komm, wir gehen in die Stadt und erfüllen uns, wovon Matrosen träumen." .Träumen', das ist das Schlüsselwort. SAILORs Songs schaffen einen Mythos, sind wie Symbole. Georg Kajanus, Gitarrist sowie Autor aller Songs, sieh.; seine eigene Jugend im Traum-Spiegel, und das Ergebnis ist zwar nicht realistisch, aber doch ehrlich. Er ist Halb-Russe, in Norwegen geboren, wuchs auf in Paris, Kanada und Panama. Welch Wunder, dass er da sensibel genug ist, gewissen Orientierungsschwierigkeiten anheim zu fallen. Er sagt: "In Paris habe ich angefangen, den Mädchen nachzuschauen, aber ich war unheimlich schüchtern und habe darunter schrecklich gelitten. Nur im Vergnügungsviertel konnte ich bekommen, was brauchte. Nicht dass ich nun ständig für die Liebe be-,ahlt hätte, aber ich war gern dort und unterhielt mich mit den Mädchen. Ich habe eine sehr große Zuneigung zu Prostituierten, obwohl ich manchmal schauderhafte sexuelle Erfahrungen mit ihnen machte. Ich empfand die Atmosphäre im Bordell-Viertel so angenehm. Man sah die ehrenwerten Geschäftsleute, die in Sex-Shops gingen und mit Paketen in braunem Packpapier wieder herauskamen. So toll ehrlich das Ganze. Dann reiste ich in andere .Städte. Hamburg, Amsterdam... Wenn Walt Disney je ; ein Puff-Land eingerichtet hätte, so würde es aussehen. So säuberlich, ordentlich und keimfrei. Die hübschen Mädchen sitzen wie die Barbiepuppen im Schaufenster."
Das ist die SAILOR Romantik. Mit einer Flasche Wein in der Hand und einem verschrobenen Lächeln auf den Lippen überwindet man die Peinlichkeiten und die Verklemmung. Das ist die Matrosen-Kunst. Als kommerzielles Produkt machten sie vor 18 Monaten der CBS etwas Schwierigkeiten, als man sie auf die Musikszene trieb, in den Matrosenanzügen, die jetzt von den Teenyboppers vor lauter Begeisterung auch getragen werden.
Henry Marsh (Nickelodeon, Akkordeon, Gesang) sagt: "Unseren ersten Auftritt überhaupt hatten wir im "Nightingale Pub", Wood Green in London, und die CBS hatte das Lokal als Pariser Bistro eingerichtet, um uns herzuzeigen. Wir waren deren neues Spielzeug."
Der Durchbruch kam mit einer Fernsehschau, die Steve Harley sehr beeindruckte. Er nahm SAILOR als Vorgruppe zu Cockney Rebel auf Tournee mit, und sie tourten außerdem mit Kiki Dee. Durch die Universitäten und Colleges reisten sie allein.
Aber das Grundproblem blieb: Nicht allzu viele Leute wollen tatsächlich Platten kaufen, die nur von Nutten handeln. Für ihr zweites Album importierte die CBS daher Rupert Holmes, den derzeitigen Produzenten von Barbra Streisand. Er sollte ihnen eine etwas andere Richtung geben, und er wird wahrscheinlich ziemlich viel Anerkennung einheimsen, obwohl sein Einfluss auf die Aufnahmen nur minimal war. Jedenfalls befindet sich unter den neuen Titeln Georgs maßgeschneiderter Hit ,"A Glass Of Champagne" (der auch vom Aufreißen handelt, es aber tunlichst vermeidet, Nutten und Luden zu erwähnen). Und die CBS-Manager, die soviel Geld in SAILOR investiert haben, konnten sich endlich der Band und ihren Fans dazugesellen: mit einem fröhlichen Lächeln.
Und auch SAILOR wird der Kurswechsel erleichtert. Sie entkommen ihrem Leicht­matrosen-Image, indem sie sich einen Humphrey Bogart-Anstrich geben. Und wieviel Songs kann man über das Viertel der roten Laternen schreiben - schrecklich viele, denn es ist eine neongleißende, vielfarbige Gegend. Aber dann lässt sich die Thematik schließlich auch erweitern in kosmopolitischere Gefilde (wie in "Stop That Man", "My Kind Of Girl" und "The Old Nickelodeon Sound" von TROUBLE). Ist nicht die neue Single reichlich bei Roxy Music abgekupfert?
"Vielleicht erinnert der Bass an 'Virginia Plain'", sagt Georg, "aber es finden sich auch Einflüsse von Jacques Brel und Kurt Weill bei anderen Titeln, abgesehen einmal von Pop- und Rock-Einflüssen. Tut mir schrecklich leid."
Klar, Georg ist rumgekommen und hat in manchen Bands gespielt, Henry besuchte dieselbe Public School wie Prinz Charles und hat in Bands gespielt, Phil Pickett (Nickelodeon, Guitarron, Gesang) studierte an der Joan Baez School of Non-Violence und spielte in Bands und Grant Serpell (Schlagzeug und Gesang), nun, der spielte und spielte in Bands, und so haben sie dahingelebt - aber jetzt sind sie Teil eines künstlerischen Mythos, Marke Eigenbau.
Oder wie Henry sagt: "Es ist eine nette Überraschung für uns alte Männer, wenn uns plötzlich die hübschen Mädchen zublinzeln."

Der Text unter den Fotos:
"Komm in die Stadt und tu, wovon Matrosen träumen"
Schrille Töne aus einer Hafenkaschemme - aus einem Pissoir der Güteklasse Eins, genannt Nickelodeon

Vielen Dank an Peter Rudolph (Deutschland)!


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